Das grüne Jahrhundert

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Das 21. Jahrhundert ist das grüne Jahrhundert. Nicht, weil überall grüne Parteien die Regierung führen, sondern in dem Sinne, in dem der große Soziologe und Historiker Ralf Dahrendorf das 19. Jahrhundert als das liberale Jahrhundert und das 20. Jahrhundert als das sozialdemokratische Jahrhundert bezeichnet hat: im Sinne des Agenda-settings.

Im 19. Jahrhundert waren liberale Parteien nur in wenigen Ländern an Regierungen beteiligt. Aber sie prägten den politischen Diskurs ihrer Zeit: sie griffen das ancien régime an, forderten bürgerliche Freiheitsrechte und eine demokratische Staatsform. Und sie waren auf lange Sicht erfolgreich. Im 18. Jahrhundert gab es all das praktisch nirgendwo in Europa oder anderswo in der Welt. Um 1900 war die Wende zum liberalen Verfassungsstaat in mehreren europäischen Ländern und in den USA vollzogen, viele andere folgten bald nach. Das meinte Dahrendorf, wenn er das 19. Jahrhundert als das liberale Jahrhundert bezeichnete.

Damit war das Feld bereitet für die Auseinandersetzungen um soziale Gerechtigkeit, die im 20. Jahrhundert den politischen Diskurs prägte. Nun ging es gegen den „Manchester-Kapitalismus“, der wenige reich machte, während die Masse der Bevölkerung arm blieb. Am Anfang des 20. Jahrhunderts waren die meisten Europäer zwar persönlich frei aber wirtschaftlich abhängig und in Elend gefangen; am Ende des 20. Jahrhunderts lebten sie nicht nur in Freiheit, sondern auch in Wohlstand und sozialer Sicherheit. Die Sozialdemokratie hatte, wie zuvor schon der Liberalismus, seine Forderungen weitestgehend durchgesetzt. Und das meinte Dahrendorf mit dem sozialdemokratischen Jahrhundert.

Nun ist das große Thema im gesellschaftlichen Diskurs die ökologische Nachhaltigkeit. Hier gibt es viel zu tun, so wie es im 19. Jahrhundert viel um die bürgerliche Freiheit und im 20. Jahrhundert um die soziale Gerechtigkeit zu tun gab. Dazu wird es ebenso wenig notwendig sein, dass grüne Parteien in den meisten Ländern die Regierung führen, wie das im 19. Jahrhundert für die liberalen Parteien und im 20. Jahrhundert für die sozialdemokratischen Parteien notwendig war. Sie und andere Kräfte, die sich für Nachhaltigkeit einsetzen, von den klassischen Naturschutzverbänden bis zu Fridays for Future, wirken schon dadurch, dass sie da sind und lautstark für ihre Ziele eintreten, dass man im Diskurs nicht mehr an ihren vorbei kommt. Kaum eine demokratische Partei zweifelt mehr an, dass ökologische Nachhaltigkeit für die Aufrechterhaltung von Freiheit, Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit unabdingbar ist. Insofern würde ein Ralf Dahrendorf unserer Zeit das 21. Jahrhundert das grüne Jahrhundert nennen.

Weblink

Ralf Dahrendorf: Bilanz und Hoffnung. Der Spiegel 45/1998.

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